Die Arbeiter im Weinberg

Neulich sagte ein Genosse, die christliche Religion müsse schon deshalb ein falsches Bewußtsein von der Gesellschaft vermitteln, weil in der Bibel nirgends die Eigentumsverhältnisse als ökonomische Basis der Gesellschaft erwähnt werden.

Nun könnte man streiten, ob die Geschichte des mit betrügerischen Mitteln geraubten Rechtes der Erstgeburt und des einen Segens (1. Mose 25:1 ff. und 27:1 ff.) durch den intellektuellen Jakob auf Kosten seines werktätigen Bruders Isaac die Enteignung der Werktätigen zugunsten schmarotzerischer und betrügerischer Nichtsnutze beschreibt. Und ob das Gleichnis: „Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme.“ (Matthäus 19:24 u.a.) die eigentumsabhängige Klassenspaltung darstellt, welche einer Gesellschaft im Wege steht, in der Alle in den Genuß der gesellschaftlich geschaffenen Werte kommen.

Ebenso könnte man Marx, Engels und Lenin anlasten, daß sie sich niemals mit dem mathematischen Gebiet der Spieltheorie beschäftigten, welches die Ermittlung optimaler Verhaltensstrategien in gesellschaftlichen Kooperations- und Konfliktsituationen ermöglicht und z.B. erst in den letzten Jahrzehnten als „Kybernetik“ in die marxistisch-leninistische gesellschaftswissenschaftliche Forschung Eingang fand. Und das bis heute nur ansatzweise auf unserer Seite, während sie in der bürgerlichen Ökonomie z.B. längst angewandt wird, wenn auch nur zur bestmöglichen Abstimmung verschiedener Kapitalinteressen.

Man sollte bei der Analyse historischer Quellen also weniger Wert darauf legen, was die Autoren noch nicht wußten, weil sie es nicht wissen konnten, sondern was man darin an Erkenntnissen findet, die entweder heute bestätigt sind oder Ansätze für weitergehende Erkenntnisse liefern. Und selbstverständlich, in welchen Punkten die Autoren nachweislich irrten. So ist bezüglich des Marxismus-Leninismus anzumerken, daß bei allen richtigen Erkenntnissen die Annahme, proletarische Revolutionen würden zuerst in den höchstentwickelten kapitalistischen Staaten siegen, schlichtweg falsch war.

In der Bibel finden sich alle möglichen Verhaltens-, Hygiene- und Rechtsvorschriften, deren Richtigkeit heute erkennbar ist. Für wissenschaftlich denkende Menschen ist klar, daß diese Vorschriften, wenn sie richtig sind, eben nicht der Eingebung durch ein höheres Wesen entstammen, sondern empirischen Erfahrungen und analytischem Denken. Die Texte der Bibel beschränken sich dabei nicht auf Anweisungen, sondern werden anhand von Geschichten und Gleichnissen nachvollziehbar gemacht. Wir sollten etwas mehr Respekt vor den Urvätern wissenschaftlichen Denkens zeigen, auch wenn deren Aussagen inzwischen von den Herrschenden und ihren Lakaien vereinnahmt und entstellt wurden (damit geht’s ja Marx, Luxemburg oder Thälmann auch nicht besser).

In den Geschichten und Gleichnissen der Bibel stecken die Erkenntnisse damaliger Denker und Revolutionäre. Das wird meist ignoriert, sowohl von den Herrschenden, welche die Religion ja auch als Opium des Volkes brauchen, als auch von den Revoluzzern, die nur ihre eigene Bibel (wahlweise von Marx, Lenin, Trotzki, Stalin, Mao oder Kim) akzeptieren. Und denen gemeinsam ist, daß sie weder die Werke, auf die sie sich berufen, noch die Werke, die sie verteufeln, auch nur ansatzweise kennen oder gar verstanden haben.

Soviel und genug der Vorrede. Aber sie ist wohl notwendig, zu erklären, warum ich ausgerechnet einem biblischen Text Arbeitszeit, das einzig Wertvolle, was der Mensch selbst bestimmt, widme. Mit einem dieser Gleichnisse aus dem Neuen Testament tun sich kirchliche wie atheistische Interpreten besonders schwer: Mit dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Scheinbar widerspricht es jedem Gerechtigkeitsempfinden, erzeugt moralistischen Widerstand und zu allem Überfluß negiert es bei oberflächlicher Betrachtung das Marxsche Wertgesetz. Und dennoch liefert seine Analyse nur die Schlußfolgerung, daß dahinter richtige Erkenntnisse stecken. Ich will das erklären, daher zunächst das Gleichnis (Matthäus 20:1 ff.):

„1 Denn die Himmelsherrschaft ist gleich einem Hausherrn, welcher mit dem frühen Morgen ausging, Arbeiter in seinen Weinberg zu dingen. 2 Und da er mit den Arbeiten eins ward um einen Denar im Tag, sandte er sie in seinen Weinberg. 3 Und ging aus um die dritte Stunde, und sah andere auf dem Markte müßig stehen, 4 Und sprach zu ihnen: Gehet auch ihr hin in den Weinberg, und was gerecht ist will ich euch geben. 5 Abermals ging er aus um die sechste, und um die neunte Stunde, und tat gleich also. 6 Um die erste Stunde aber ging er aus, und fand andere, die da standen, und sagten ihnen: Was stehet ihr hier den ganzen Tag müßig? 7 Sie sagten ihm: Es hat uns niemand gedingt. Sagt er ihnen: Gehet auch ihr hin in den Weinberg, und was gerecht ist, werdet ihr empfangen. - 8 Da es nun Abend geworden war, sprach der Herr des Weinberges zu seinem Schaffner: Rufe die Arbeiter, und gib ihnen den Lohn, und hebe an von den Letzten bis zu den Ersten. 9 Und als die um die elfte Stunde Gedingten kamen, empfingen sie je einen Denar. 10 Und als die Ersten kamen, dachten sie, daß sie mehr empfangen würden, aber auch sie empfingen je einen Denar. 11 Da sie den empfingen, murrten sie wider den Hausherrn, 12 Und sprach: Diese Letzten haben eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgemacht, die wir die Last des Tages und die Hitze getragen haben. 13 Er aber antwortete, und sprach zu einem von ihnen: Freund! ich tue dir nicht Unrecht. Wirst du nicht mit mir eins geworden um einen Denar? 14 Nimm das Deine, und gehe! Ich will aber diesen Letzten geben gleich, wie dir; 15 Oder ist es mir nicht erlaubt, mit dem Meinen zu machen, was ich will? Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin? 16 Also werden die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein, denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.“

Auf den ersten Blick haben jene Arbeiter, welche länger arbeiteten, auch mehr Wert geschaffen. Der Moralist würde sagen, sie hätten dann auch mehr Lohn verdient. Aber so funktioniert eine Ausbeutergesellschaft nunmal nicht. Der Arbeiter bekommt den Lohn nicht für seine Wertschöpfung, sondern, um seine Arbeitskraft zu erhalten. Und dafür benötigt der erst nachmittags eingestellte Tagelöhner ebensoviel wie der, welcher sich seit der Frühe abrackert.

Andere Interpretationen sind möglich.

Ebenso kann das Gleichnis als Aufruf gegen den Neid verstanden werden. Daß nämlich Leute, die mehr arbeiten, Jene verurteilen, die weniger arbeiten, aber das Gleiche bekommen. Dabei liegt es doch an ihnen, einen höheren Lohn zu fordern, und zwar nicht hinterher, sondern wenn sie den Vertrag mit ihren Ausbeutern schließen. Stattdessen nutzen die Ausbeuter diesen Neid, damit hart Arbeitende, welche lausig bezahlt werden, fordern, daß Jene, welche von der Arbeit ausgeschlossen sind, noch weniger bekommen. Minister und ähnliches Gesindel nennen das „Lohnabstandsgebot“. Dabei wäre doch Sache der hart Arbeitenden, einen höheren Lohn für sich durchzusetzen anstatt einen niedrigeren für Andere. Nebenbei: In der Bibel steht auch, daß Neid eine Todsünde ist.

Was aber am Ehesten gemeint war, ist etwas Anderes: Wer später in eine Tätigkeit einsteigt, aber sie genauso qualifiziert oder besser ausübt, hat auch Anspruch auf gleichen oder höheren Lohn. Jemand, der sich später zur christlichen Religion bekehrt, hat den gleichen Anspruch auf das Reich Gottes, wie der lebenslang allen Geboten der Religion Folgende.

Auch das ist brandaktuell. Gerade in der marxistisch-leninistischen Bewegung GLAUBEN Manche, weil sie so lange dabei sind und Marx, Engels und Lenin wörtlich zitieren können, hätten sie eine höhere Kompetenz und dadurch Ehrerbietung verdient. Ich erinnere, um keine Namen zu nennen, an Liebersky, Biam, Hagmann und Diecker. Daß sie länger arbeiteten, bedeutet nur, daß sie schon mehr Dummheiten produzierten, als einem jungen Genossen je möglich waren. Ihnen den gleichen Lohn wie einem engagierten KIler zu geben, der das Kapital zwar nicht aufsagen kann, aber das, was er gelesen hat, verstanden hat und umsetzt, ist völlig absurd. So weit ist Jesus mit seinem Gleichnis (oder das, was ihm zugeschrieben wird) nicht gegangen. Aber inzwischen haben wir auch fast zweitausend Jahre Erkenntnisfortschritt hinter uns.
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Das Umdenken